„Es braucht nicht viel, um aus dem Alltag rauszukommen“

„Was hacken wir denn?“, fragt eine Teilnehmerin in die Runde, während alle ihre Hände flach in der Luft ruckartig auf und ab bewegen. „Kräuter!“, kommt es aus dem Sitzkreis gerufen. Wir sind mitten im Gymnastiktraining hier im Treff bei St. Wolfgang, einem wöchentlichen Angebot für Menschen mit Demenz. Wir – das sind heute vier Besucher:innen, zwei Ehrenamtliche und eine Hauptamtliche. Ich darf den Nachmittag begleiten, mit Fotos, Gesprächen und den Einblick in ein wichtiges Angebot in der Reutlinger Innenstadt.

Los geht es um 14 Uhr mit einer entspannten Gesprächsrunde bei Kaffee und verschiedenen Kuchen. Den hat Galina Tuscher, die hauptamtlich tätig ist, in viele kleine Stücke geschnitten, damit alle von allem etwas probieren können. „Haben wir schnell gebacken“, sagt Doris* augenzwinkernd und widmet sich wieder ihrem Gespräch mit einer ehrenamtlichen Helferin.

Wir sitzen im kleinen, hellen Saal des Augustin-Bea-Haus. Gegenüber von mir sitzt Erich. Seine Tochter habe ihn dazu überredet, diesen Treff kennenzulernen, um etwas Abwechslung in den Alltag zu bekommen. Zu Beginn fiel es ihm schwer, ohne seine Frau hier zu sein, aber mittlerweile fühlt er sich wohl in der Gesellschaft und geht später beim gemeinsamen Singen richtig auf. „Ich war viele Jahre im Chor aktiv“, erzählt er stolz.

Irgendwann kommt ein Mann mit Gitarre rein und alle fangen an, zu rufen und zu klatschen. Der freudige Empfang gilt Bruno, einem weiteren Ehrenamtlichen, der immer wieder Liederbücher mitbringt und mit den Teilnehmenden singt. So auch heute – Erichs Augen glänzen.

„Bald gras ich am Neckar, bald gras ich am Rhein, bald habe ich ein Schätzel, bald bin ich allein“, singen wir gemeinsam. Bruno leitet mit Begeisterung an, erzählt zwischendurch kleine Anekdoten zu den Liedern. Die lockere Atmosphäre war schon zu Beginn spürbar und bleibt auch so. Die Aktivitäten sind flexibel, je nachdem, wonach den Teilnehmer:innen ist. Wer nicht singen mag, muss nicht singen – man darf auch einfach da sein und zuschauen. Im Regelfall begleiten genauso viele Ehrenamtliche den Nachmittag wie Gäste da sind. So kann jede:r gut betreut werden. Manchmal gehen sie auch spazieren, heute genießen wir jedoch die vielen Gespräche und freuen uns über Doris‘ kreativen Sprüchen, die sie immer wieder raushaut.

Es ist bereits kurz vor vier. Die Zeit vergeht wie im Flug, aber das Highlight des Tages steht noch aus: Sackwerfen! „Das machen alle immer gerne mit“, erzählt Tuscher. Wir sitzen wieder im Kreis und starten gemütlich mit einem Stoffball, der kreuz und quer zwischen den Teilnehmer:innen geworfen wird. Ein weiterer Ball kommt dazu, dann noch einer – es wird verrückt und hektisch. Alle müssen lachen, als plötzlich drei Bälle gleichzeitig auf Udo einschlagen. Der sonst eher ruhigere Teilnehmer blüht auf und ist trotz Parkinson sehr aktiv im Spiel.
Ich bin beeindruckt über diese Dynamik zwischen den Teilnehmer:innen, die sich noch nicht lange kennen, jedoch achtsam und liebevoll miteinander umgehen.

„Es braucht nicht viel, um aus dem Alltag rauszukommen. Ein bisschen singen, quatschen, zusammen sein. Die Zeit hier genieße ich sehr“, sagt mir Vincent beim Abschied. Wer nicht selbst An- bzw. Zugehörige abholen kann, dem steht der Busdienst zur Verfügung. Doris kommt mit einem Grinsen auf mich zu: „Ich freue mich schon auf die Bilder, wehe ich sehe nicht gut aus!“

*Namen der Teilnehmer:innen von der Redaktion geändert

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